Bergkarabach

„Unser halbes Dorf ist zerstört“

Unsere Hilfsgüterverteilung für Flüchtlinge aus Bergkarabach in Armenien erreicht rund 650 Haushalte. Ihre Zukunft ist ungewiss – unseres Beistandes aber können sie sich sicher sein.
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Rita Bakhshyan flüchtete mit ihrem Sohn und dessen Frau aus Bergkarabach nach Armenien. Zu Fuß schlug sich die Familie durch die Wälder. Die 72-Jährige schaffte es kaum.
Rita Bakhshyan flüchtete mit ihrem Sohn und dessen Frau aus Bergkarabach nach Armenien. Zu Fuß schlug sich die Familie durch die Wälder. Die 72-Jährige schaffte es kaum.

Krieg, Flucht und Ungewissheit

Auf eine Krücke gestützt schleppt sich Spartak Bakhshyan mühsam zu einem Stuhl, auf den er sich schwer fallen lässt. „Ich war 1993 Soldat im ersten Krieg mit Aserbaidschan“, erzählt der 51-Jährige. „Eines Tages bin ich auf eine Mine getreten und habe mein Bein verloren. Damals war ich Anfang 20.“ Den Krieg kennt der stämmige Mann mit den kurzen grauen Haaren nur zu gut. Zwar folgte auf den ersten gewaltsamen Konflikt Anfang der 1990er eine relativ ruhige Zeit des Waffenstillstandes. Wie viele andere Kriegsversehrte konnte Spartak Bakhshyan mit Unterstützung von Hoffnungszeichen im Prothesenzentrum in Stepanakert eine Beinprothese erhalten. Er gründete mit seiner Frau Roza eine Familie – gesegnet mit zwei Töchtern und drei Söhnen lebten sie in der Nähe der Stadt Hadrut.

Doch im Herbst 2020 kam der Krieg zurück nach Bergkarabach. „Unser Dorf wurde gleich bei Kriegsbeginn mit Raketen und Haubitzen beschossen und bombardiert. Ich hatte Angst um meine Frau und meine Mutter. Wir konnten nicht mehr bleiben. Geflüchtet sind wir am 3. Oktober. Da war schon die Hälfte des Dorfes zerstört. Wir mussten uns zu Fuß durch die Wälder schlagen. Auf den Straßen konnten wir nicht gehen. Das war zu gefährlich“, berichtet Spartak Bakhshyan mit müdem, erschöpftem Blick. Haltsuchend stützt er sich auf den wackeligen Tisch. „Zuhause hatten wir einen Bauernhof, der meine Familie ernährt hat. Wir haben Weizen angebaut und Honig hergestellt. Wir mussten alles zurücklassen. Was aus meinem Bauernhof geworden ist, weiß ich nicht. Nachbarhäuser wurden niedergebrannt, auch das meines Bruders.“

Krieg im Kaukasus

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion eskalierte der jahrzehntelange Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien. Die mehrheitlich von Armeniern bewohnte, völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehörende Region Bergkarabach wurde Schauplatz schwerer Gewalt.
1991 erklärte sich die international nicht anerkannte Republik Bergkarabach bzw. Arzach unabhängig. Die Auseinandersetzung mündete ein Jahr später in einem Krieg mit über 25.000 Toten. Nach der Waffenruhe 1994 scheiterten verschiedene Vermittlungsversuche, immer wieder gab es tödliche Zusammenstöße.
Im Herbst 2020 kam es erneut zum Krieg, über 6.500 Menschen starben. Die Waffenstillstandsvereinbarung sah die Rückgabe einiger Gebiete Bergkarabachs an Aserbaidschan vor. Von den 100.000 Flüchtlingen leben noch immer über 20.000 in Armenien.

Beistand für Geflüchtete

Die Familie hat in der armenischen Hauptstadt Eriwan in einem maroden Plattenbau eine vorläufige Bleibe gefunden. Damit hat sie noch Glück, denn viele Flüchtlinge leben seit mehr als zwei Jahren in Sammelunterkünften. Doch die Mieten steigen immer weiter, denn der Zustrom vieler mittelloser Menschen und die unsichere politische Situation verschärfen die soziale und infrastrukturelle Lage in Armenien. Sowohl Spartak als auch Roza Bakhshyan haben massive gesundheitliche Probleme, aber ihre größte Sorge ist das Schicksal ihrer Söhne. Der älteste, Ishkhan (27), wurde während des 44-tägigen Krieges an der Wirbelsäule verletzt und ist dadurch Invalide. Die beiden jüngeren, Robert (18) und Artur (16), sitzen seit Monaten in Stepanakert fest, weil Fluchtwege abgeriegelt sind. Jeden Tag hoffen die Eltern, dass ihre Kinder an die Tür klopfen.

Spartak Bakhshyan ist in Sorge um zwei seiner Söhne, die noch in Bergkarabach sind. Seine Familie leidet oft Hunger;  die Medikamente für den herz- und nierenkranken Spartak sowie den invaliden Sohn kann sie sich nicht leisten.
Spartak Bakhshyan ist in Sorge um zwei seiner Söhne, die noch in Bergkarabach sind. Seine Familie leidet oft Hunger; die Medikamente für den herz- und nierenkranken Spartak sowie den invaliden Sohn kann sie sich nicht leisten.

Von der Invalidenrente des ältesten Sohnes können sie gerade eben noch die Miete zahlen, und die Rente von Großmutter Rita (72), die umgerechnet etwa 120 Euro beträgt, verhilft zum gelegentlichen Kauf von Nudeln oder Kartoffeln. Geld für Medikamente, eine neue, angepasste Prothese oder gar für die dringend benötigte Herzoperation von Spartak, der zudem nierenkrank ist, bleibt dabei kaum übrig. Arbeit finden weder Spartak noch Roza. Morgens besteht das karge Mahl der Familie aus einem Stück Brot und einem Glas Tee – aber gegessen wird laut Roza morgens eigentlich nur deshalb eine Kleinigkeit, weil sie ihre Medikamente nicht auf nüchternen Magen einnehmen sollen.

Unsere Hilfe geht weiter

Tausende Menschen aus Bergkarabach sind nach wie vor auf der Flucht; die meisten von ihnen leben wie Familie Bakhshyan in Armenien. Die Hilfe, die wir den Menschen in Bergkarabach seit über zwei Jahrzehnten durch regelmäßige Verteilungen zukommen lassen, kann aufgrund der derzeitigen Situation und der damit einhergehenden militärischen Abriegelung aktuell nicht in Bergkarabach selbst stattfinden. Wir überbringen sie stattdessen direkt den Flüchtlingen, die in Armenien Schutz gesucht haben – etwa in der Region Eriwan, aber auch anderswo im Land. In drei Verteilaktionen zwischen Januar und September erhalten etwa 650 Familien und Einzelpersonen wie Verwitwete und Verwaiste von uns die bewährten Hilfspakete mit Speiseöl, Tee, Fleischkonserven, Teigwaren, Mehl, Salz, Seife und einigem mehr; für bis zu vier Wochen können die Menschen hiervon zehren. Unsere armenischen Mitarbeitenden Aljona Zeytunyan und Wigen Aghanikjan führen diese Übergaben mit der gewohnten Umsicht und Erfahrung durch und bekommen die Dankbarkeit der Menschen, die alles verloren haben, vermittelt.

Unsere Mitarbeitenden Wigen Aghanikjan und Aljona Zeytunyan setzen die Hilfe für Menschen aus Bergkarabach weiter fort. In Armenien verteilen sie Hilfsgüter an Geflüchtete.
Unsere Mitarbeitenden Wigen Aghanikjan und Aljona Zeytunyan setzen die Hilfe für Menschen aus Bergkarabach weiter fort. In Armenien verteilen sie Hilfsgüter an Geflüchtete.

Auch wir danken Ihnen, dass Sie gemeinsam mit uns weiterhin den Menschen aus Bergkarabach beistehen. Mit einer Gabe von 75 Euro können Sie ein Hilfspaket für eine Flüchtlingsfamilie packen – aber natürlich hilft auch jeder andere Betrag dabei, den Geflüchteten beizustehen. Haben Sie vielen Dank!

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