
1. Drei Jahre Krieg – wie geht es den Menschen heute?
Filipek: Stellen Sie sich vor, Sie würden seit Jahren von Krieg hören und lesen – ohne Aussicht auf einen Sieg und mit der Angst, dass es bald wieder von vorne losgeht. Das beeinflusst unseren Alltag immens. Die Menschen sind erschöpft, aber sie versuchen dennoch so etwas wie Normalität aufrechtzuerhalten. Besonders schön zu sehen ist, dass es eine neue Form des Zusammenhalts und Gemeinschaftsgefühls gibt – mit mehr Freundlichkeit und Solidarität. Dies ist vor allem in den stark umkämpften Regionen spürbar. Dort kümmern sich die Menschen um streunende Tiere, versorgen ältere Menschen und Alleinlebende und passen sogar auf die Wohnungen derjenigen auf, die geflüchtet sind.
2. Was sind aktuell die größten Herausforderungen?
Filipek: Der Verlust von Angehörigen oder von allem, woran man ein Leben lang gearbeitet hat, hinterlässt tiefe Wunden, die sich auf alles im Leben auswirken. Der Verlust des Zuhauses oder der Arbeit zwingt viele in völlig neue Gegenden zu ziehen, wo sie bei null anfangen müssen. Die Menschen sehnen sich nach ihrer Heimat, emotionaler und physischer Sicherheit sowie wirtschaftlicher Stabilität – mit einem gesicherten Einkommen, das es ihnen ermöglicht, wieder ein Gefühl der Normalität zu erlangen. Manche Kinder kennen seit ihrer Geburt nichts anderes als Krieg und haben nie eine Welt ohne Konflikte erlebt. Selbstverständliche Dinge wie ein Spaziergang in der Natur ohne Angst vor Minen, eine warme Wohnung im Winter, saubere Kleidung, warmes Wasser und Lebensmittel im Kühlschrank sind für viele in der Ukraine ein unerreichbarer Luxus geworden.
3. Hoffnungszeichen hat seit 2022 ein Büro in der Ukraine. Wie hat diese Arbeit begonnen und was sind Ihre Hauptaufgaben?
Filipek: Hoffnungszeichen leistete sofort nach Beginn des Krieges humanitäre Hilfe. Seit 2022 hat unsere Arbeit stetig zugenommen. Unsere Hilfsmaßnahmen reichen von der Bereitstellung sicherer Unterkünfte über psychologische Betreuung und finanzielle Hilfen bis hin zur Versorgung mit Heizmaterial im Winter sowie Wasser- und Sanitärdiensten. Wir konzentrieren uns insbesondere auf die östlichen Regionen und die am stärksten gefährdeten Gruppen: ältere Menschen, Alleinerziehende, Menschen mit Behinderungen oder diejenigen, die alles verloren haben. Zudem arbeiten wir eng mit lokalen Partnerorganisationen zusammen, die mit ihrer Expertise helfen, auch entlegene und besonders gefährdete Gemeinschaften zu erreichen.
4. Warum ist unsere Unterstützung so wichtig?
Filipek: Für manche Menschen bedeutet unsere Hilfe alles. Stellen Sie sich vor, Sie verlieren Ihr Zuhause, Ihre Arbeit, Ihr gesamtes Hab und Gut. Alles, was Sie noch besitzen, passt in zwei Plastiktüten, die Sie in den Händen halten. Sie werden in ein überfülltes Notquartier in einem anderen Teil des Landes evakuiert. Hier kommt unsere Unterstützung ins Spiel. Wir richten Notunterkünfte ein, in denen die Menschen sicher und würdevoll leben können. Mit finanziellen Hilfen über mehrere Monate lindern wir die wirtschaftlichen Sorgen. Psychologische Betreuung gibt ihnen Halt, während unsere Rechtsberatung ihnen hilft, Sozialleistungen zu beantragen, um ihr Leben neu aufzubauen. Zusätzlich stellen wir lebensnotwendige Güter und weitere wichtige Hilfsmittel bereit. Jeder, den wir unterstützen, ist zutiefst dankbar. Sie sagen uns oft, dass sie sich endlich wieder gesehen fühlen – dass sie wissen, dass irgendwo da draußen jemand ist, der sich um sie sorgt. Unsere Hilfe kann die Verluste nicht ungeschehen machen, aber sie ist ein Zeichen der Solidarität – ein kleines Stück Wärme inmitten des Chaos.
Ein Beispiel: In unseren Sommercamps für Kinder, die ein Elternteil verloren haben, sehen wir, wie wichtig es ist, Abschied nehmen zu können. Kinder, die verstehen, dass ihr Vater nicht zurückkommt, können oft besser mit dem Verlust umgehen als jene, die in einer Ungewissheit gefangen sind – immer noch hoffend, dass ihr Vater eines Tages zurückkehrt. Diese emotionale Starre kann für sie noch schmerzhafter sein als die Realität. In unseren Camps 2023, 2024 sowie dieses Jahr möchten wir den Kindern deshalb wenigstens ein paar unbeschwerte Momente schenken.
5. Wie beeinflusst der Krieg Ihr tägliches Leben und Ihre Arbeit?
Filipek: Im Grunde arbeiten wir rund um die Uhr im Notfallmodus. Je nach Region müssen wir ständig die Sicherheitslage neu bewerten und gleichzeitig Menschen unterstützen, die unter schweren Traumata und Hoffnungslosigkeit leiden. Die Logistik ist eine täglich neue Herausforderung: Besonders in den abgelegenen und stark umkämpften Gebieten ist es schwierig, die Hilfsgüter auszuliefern. Beispielsweise war unser Team letzten Monat in Vilniansk (Region Saporischschja), um Menschen für finanzielle Hilfen zu registrieren. Auf dem Rückweg erfuhren sie, dass die Stadt mit gelenkten Luftbomben angegriffen wurde. Sie mussten sich auf halber Strecke an einem sicheren Ort verstecken und zwei Stunden warten, bis sie die Information erhielten, dass der Angriff vorbei war.
6. Trotz allem – was gibt Ihnen Hoffnung?
Filipek: Die Menschen in der Ukraine. Trotz unvorstellbarer Belastungen, der Angst und des Leids halten sie an ihren Werten fest. Sie kämpfen nicht nur ums Überleben – sie kämpfen für die Zukunft ihres Landes und der kommenden Generationen. Und das gibt mir Hoffnung.
Über: Veronika Filipek
Veronika Filipek engagiert sich bei Hoffnungszeichen seit 2022 als Landesreferentin und leistet humanitäre Hilfe in der Ukraine. Unsere Zusammenarbeit mit lokalen Organisationen ermöglicht es uns, auch in den entlegensten Gebieten Hilfe leisten zu können. Ein Beispiel dafür ist die Unterstützung von vulnerablen, älteren oder behinderten Menschen in ländlichen Gebieten, die nicht in der Lage sind, in Sammelunterkünfte zu ziehen.